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„Ich wollte doch bloß frei sein“
Mario Röllig, ein DDR-Zeitzeuge erzählt von weit mehr als vom Stasi-Knast

bild 1 röllig 30.6.Ein leichtes Raunen setzt ein, als die CEG-Schülerinnen und Schüler auf einen Zeitzeugen aus der ehemaligen DDR treffen. Vor ihnen steht ein jugendlicher, baumlanger, kurzhaariger Mann, ganz in schwarz gekleidet, der einen unverkrampften Eindruck macht. Irgendwie hatten sie ihn sich anders vorgestellt, wie genau wusste aber keiner zu erzählen.

„Eigentlich wäre ich zufrieden gewesen mit der DDR“, sagt Mario Röllig über seine Jugend, „ich hatte einen privilegierten Job im Flughafenrestaurant und Geld – vermutlich wäre ich als angepasster DDR Bürger durchs Leben gegangen, wenn das alles nicht passiert wäre.“

Aber es ist so viel passiert, dass Röllig, Sohn zweier SED Mitglieder, Thälmannpionier und FDJler, sich heute als „demokratischer Antikommunist“ bezeichnet. Das alles hat die Stasi aus ihm gemacht.

Röllig redet munter drauflos, er ist zwar das zweite Mal am CEG, war aber schon seit fast zehn Jahren immer wieder an anderen Schulen im Großraum Nürberg/Erlangen als Gesprächspartner an Schulen, nie käme man auf die Idee, dass er heute noch Angst hat, vor grellem Licht oder dem Geräusch von Zweitaktmotoren – eine „Erinnerung“ an seine Inhaftierung in Stasigefängnis in Berlin-Hohenschönhausen. Für ihn ist die Zeitzeugentätigkeit am CEG gleichzeitig eine Art Therapie.

Mit 17 verliebt er sich am Plattensee in einen älteren westdeutschen Herrn- den damaligen Wirtschaftsstaatssekretär der Regierung Kohl. Da die Stasi ihn immer mehr unter Druck gesetzt hatte, seinen Geliebten auszuspionieren und beide die Beziehung über die Berliner Mauer hinweg als unbefriedigend empfinden, wagt Röllig1987 einen Fluchtversuch, wird aber an der ungarisch-jugoslawischen Grenze gefasst.
Die ungarischen Genossen übergeben den Republikflüchtling an die Ostberliner Staatssicherheit. In einem Gefängnistransporter (Barkas 1000- für die Autokenner), fahren sie ihn vom Flughafen Schönefeld nach Hohenschönhausen. Sie drohen ihm: „Wir sind die Staatssicherheit. Wir müssen nicht nett zu Ihnen sein.“ Und sie machen ihm Angst. Beobachten ihn durch den Spion beim Toilettengang. Verhören ihn mal über Stunden, dann wieder tagelang gar nicht. Sie malen ihm in den schillernsten Farben aus, wie es einem Schwulen im Knast ergeht. Drohen, seine Eltern zu verhaften oder seine Nichte zwangsadoptieren zu lassen.

bild 2 röllig 30.6.Drei Monate bleibt er inhaftiert, im September 1987 wird er entlassen – in die DDR. Erst ein halbes Jahr später wird er für 40 000 DM freigekauft.
Es folgt eine Zeit des Abenteuers und großen Geldes: Reiseleiter in Russland (die erste Fremdsprache des DDR Schulsystems machte sich bezahlt), Barmann in Los Angeles.

Seit 1999 lebte Mario Röllig wieder in Westberlin, er arbeitete als Zigarrenverkäufer im KaDeWe. Ein Kunde verlangt Zigarren- es ist sein Verhöroffizier aus Hohenschönhausen, der sagt: „Was wollen Sie von mir? Reue ist was für kleine Kinder. Wofür soll ich mich bei Ihnen entschuldigen? Sie sind doch ein Verbrecher.“ Mario Röllig bricht zusammen.Die Erinnerungen an die Inhaftierung kommen wieder hoch. Er schließt sich zu Hause ein, unternimmt einen Selbstmordversuch. Er wandert für Monate in die Psychiatrie. Die alte Angst hat ihn wieder ganz fest im Griff.
Seine Therapie heute: die Sorge um seinen Hund – und über das Erlebte sprechen. Die konzentrierte, aufmerksame Ruhe und die teilweise langen Gespräche mit Schülern nach dem offiziellen Teil des Zeitzeugengesprächs zeigen, dass Mario Röllig unsere Schüler gefesselt hat und ihnen einen plastischen Eindruck vom Leben in einer Diktatur vermittelt hat.

PS: Im kommenden Jahr wird Mario Röllig unserer 10. Jahrgangsstufe leider nicht als Zeitzeuge zur Verfügung stehen, er wird als Dozent für DDR-Geschichte an der Universität Charlotte/South Carolina tätig sein.

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